Rezension: Die Stadt der Sehenden von José Saramago

Published Okt 1, 2012

„Die Stadt der Sehenden“ ist der zweite Teil einer Erzählung von José Saramago. Um diesen zu verstehen muss man den ersten Teil nicht zwingend gelesen haben. Ich empfehle es dennoch, denn mir persönlich hat der erste Teil besser gefallen.

In der namenlosen Hauptstadt des Landes, das vor vier Jahren von einer plötzlichen Blindheitsepidemie heimgesucht wurde, geschehen erneut kuriose Dinge. Bei den Wahlen ist die Stimmbeteiligung extrem niedrig und diejenigen, die ihre Stimme in die Urne gelegt haben, haben vorwiegend leere Stimmzettel abgegeben. Die Regierung beordert Neuwahlen an, doch dort fällt das Resultat noch deutlicher aus: 83% haben weiss gewählt, die bisherige Regierung verliert ihre Legitimation. Die Politiker sind verzweifelt und wissen nicht mehr weiter. Sie wenden verschiedene Massnahmen an, lancieren gar einen Bombenanschlag auf die Bahnhof der Stadt, rufen den Belagerungszustand aus und überlassen kurz danach die Stadt ihrem Schicksal. Doch alles hilft nichts. Die Hauptstadtbevölkerung hat die Lage im Griff. Doch plötzlich bietet sich der Regierung die Chance, einen Sündenbock für ihr eigenes Versagen zu finden. 
Demokratie oder Diktatur?
José Saramago erzählt in „Die Stadt der Sehenden“, was passieret, wenn es in einem demokratischen System zu einer Revolution auf legalem Wege kommt. Es ist erschreckend zu sehen, wie plausibel und anschaulich Saramago die Handlungen und Entscheide der Regierung darstellt. In seiner Erzählung ist die Regierung nur darauf aus, die Macht zu bewahren und ist dafür gewillt, die Gesetze und die Grundwerte der Demokratie mit Füssen zu treten. Sie greift mit einem Bombenanschlag ihre eigene Bevölkerung an, verbreitet Lügen, manipuliert die Massenmedien und führt zudem eine strenge Zensur ein. Die Bevölkerung, die sich nichts zu schulden hat kommen lassen, ausser von ihrem Recht, leere Stimmzettel in die Urne zu legen, Gebrauch zu machen, wird belagert. Der Protest aus den eigenen Reihen, wird von der Regierung nicht beachtet, die Rücktritte zweier Regierungsmitglieder werden stillschweigend mit bestehenden kompensiert. Die Demokratie verwandelt sich innerhalb kürzester Zeit in eine Diktatur, die vor nichts zurückschreckt, um an der Macht zu bleiben und für ihr eigenes Versagen einen Sündenbock zu finden.
Der Zerfall der Gesellschaft
Die Hauptstadtbevölkerung ist mit ihrer Regierung unzufrieden und drückt dies durch die Abgabe der leeren Stimmzettel aus. Die Regierung versteht den Wink mit dem Zaunpfahl jedoch nicht und will sich von der Bevölkerung nicht demütigen lassen. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, wollen sie an der Macht bleiben. Sie liefert damit das beste Beispiel für die Respekts- und Rücksichtslosigkeit, die in der Gesellschaft vorherrscht und gegen die sich die Bevölkerung wehren will. Saramago nennt die Gründe für den Zerfall der Gesellschaft in einer Textpassage auf Seite 239, in der er beschreibt, wie die beiden Unterstellten des Polizeikommissars nach ihrem Chef aufstehen und nicht angezogen und rasiert vor diesem frühstücken. „… es sind diese kleinen Risse im Lack des guten Benehmens, die langsam und stetig das solideste soziale Gefüge zerbrechen lassen…“ 
Der Schluss der Erzählung ist ein weiteres Indiz für den von Saramago angesprochenen Gesellschaftszerfall. Der Kommissar wird von der Regierung erschossen, genau wie auch die Frau des Augenarztes. Die Gegner werden einfach ausgelöscht, ganz entgegen allen demokratischen Regeln und Grundwerten. 
Zum Stil des Werks von Saramago sage ich nicht viel, denn die Erklärungen dazu decken sich mit denen zum ersten Teil. Ich muss jedoch anmerken, dass mir der zweite Teil weniger gut gefallen hat als der erste. Zwar vermag Saramago auch in dieser Erzählung mit Scharfsinn und Weitsicht in der Konstruktion der Handlung zu überzeugen, doch es passiert für meinen Geschmack doch ein bisschen zu wenig. Den Schilderungen fehlt es an Tempo und Action. Diese Aspekte gefielen mir beim ersten Teil besser. Trotz allem ist auch dieses Werk absolut lesenswert. (fba)


Bibliografische Angaben:

Titel: Die Stadt der Sehenden
Autor: José Saramago
Seiten: 384
Erschienen: 2004
Verlag: rororo
ISBN-10: 3499240823
ISBN-13: 978-3499240829
Bewertung: 

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