Rezension: Der Tod und das Mädchen von Ariel Dorfman

Updated Nov 11, 2017

Mit „Der Tod und das Mädchen“ ist dem chilenischen Autoren Ariel Dorfman ein ganz besonderes Werk gelungen, das die möglichen Folgen der chilenischen Diktatur sehr realistisch aufzeigt und den Leser zum Nachdenken anregt.

Paulina Salinas war eine junge, unternehmungslustige Medizinstudentin, die mit Gerardo Escobar eine glückliche Beziehung führte. Während der Diktatur unter Pinochet wurde sie während zwei Monaten festgehalten und missbraucht. Danach war sie nicht mehr wieder zu erkennen. Am Rande der Gesellschaft fristete sie ein einsames Dasein ohne jeglichen Kontakt zur Aussenwelt. Sie brach ihr Studium ab und hatte kaum mehr soziale Kontakte – ihre Vergangenheit hat sie nie bewältigt. Eines Abends brachte Gerardo nun einen Mann mit nach Hause, in dem sie ihren Peinger wieder erkannte und sich nun Rache schwor.

Eine sehr schön konstruierte Geschichte, die von Ariel Dorfman äusserst authentisch und glaubwürdig erzählt wird. Da in diesem Stück nur drei Personen involviert sind, kann man sich mit allen Figuren sehr gut identifizieren und versteht ihre Sorgen, Ängste und Probleme.

Gerardo steckt in der Zwickmühle

Neben dem Hauptkonflikt zwischen Paulina und Roberto, ihrem angeblichen Peiniger, ist die Rolle von Gerardo in Ariel Dorfmans Werk sehr interessant, denn dieser steht zwischen den beiden Fronten. Auf der einen Seite versteht er seine Frau und möchte ihr die Möglichkeit geben, mit ihrer Vergangenheit abzuschliessen. Gerardo hat jedoch ein Problem damit, wie Paulina an die Sache herangeht, denn das was sie mit Roberto macht, ist illegal, vor allem da ihre Beweise (Geruch, Haut, Stimme) nicht hieb- und stichfest sind. Auf der anderen Seite wäre da noch Roberto, der ihm bei seinem Autounfall geholfen hat und von dem er nicht weiss, ob er wirklich derjenige war, der Paulina missbraucht hatte oder nicht. Erschwerend kommt in dieser sonst schon äusserst kniffligen Situation noch hinzu, dass Gerardo in einer Kommission des Präsidenten mitarbeiten soll, welche die Verbrechen während der chilenischen Diktatur aufzeigen will – er soll also genau das machen, was Paulina auf illegale Art und Weise auf eigene Faust macht.

Chilenische Diktatur

Ariel Dorfman versteht es in diesem Werk auch ausgezeichnet, die historischen Hintergründe der Diktatur in Chile einfliessen zu lassen. Vor der Lektüre hatte ich so gut wie nichts darüber gewusst, doch Dorfman schildert die Auswirkungen und Ereignisse so detailliert und glaubwürdig, dass man zu verstehen glaubt, was damals passierte. Auch die Kommission, in der Gerardo mitarbeiten soll, existiert in Wirklichkeit und soll dazu dienen, die Vergangenheit zu bewältigen. Mit der Lektüre dieses Werks lernt man also auch noch einiges über die chilenische Geschichte.

Individuelle Vergangenheitsbewältigung

Sehr geschickt wurden auch inhaltliche Finessen eingebaut. So beispielsweise die Repetition des Leitmotivs der klassischen Musik – vor allem das Stück „la muerte y la doncella“ von Schubert. Dieses Stück wurde immer während den Missbräuchen gespielt und dann 15 Jahre später wieder, als Paulina erstmals mit Roberto sprach. Auch Am Ende des Werks treffen sich die beiden Monate später wieder in einem klassischen Konzert, bei dem dieses Stück gespielt wird. Während des Stücks kreuzen sich die Blicke der beiden und Paulina schafft es, ihren Blick zu lösen und nach vorne – in die Zukunft – zu schauen.
Damit hat sie es nun doch noch geschafft, ihre Vergangenheit zu bewältigen, wenn auch erst 15 Jahre später. Am Beispiel von Paulina wird aufgezeigt, wie schwer die Bewältigung der Diktatur in Chile ist und was für Probleme dabei auftauchen können. Sehr gelungen finde ich auch das Ende, denn es bleibt unklar ob Roberto wirklich der Peiniger war oder nicht. So kann sich der Leser sein eigenes Ende kreieren, so wie auch jeder eine individuelle Lösung zur Bewältigung der Diktatur finden muss. Dafür gibt Ariel Dorfman dem Leser sogar im Stück Zeit, denn zu den Tönen der klassischen Musik wird im Konzertsaal ein Spiegel aufgestellt, in dem sich das Publikum selber betrachten kann – eine Katharsis aus dem Lehrbuche des aristotelischen Dramas.

Ich finde „Der Tod und das Mädchen“ vermag sowohl inhaltlich wie auch formal auf der ganzen Linie zu überzeugen. Die Geschichte wird authentisch erzählt und wartet am Ende mit einer guten Message auf, so dass der Leser nach der Lektüre noch etwas zum Denken angeregt wird.

Bibliografische Angaben

Titel: Der Tod und das Mädchen (span. La muerte y la doncella)
Autor: Ariel Dorfman
Seiten: 78
Erschienen: 1991
Verlag: Fischer
ISBN-10: 3596114268
ISBN-13 978-3596114269
Bewertung: 5/5


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