Rezension zu Die neuen leiden des jungen W von Ulrich Plenzdorf

Rezension: Die neuen Leiden des jungen W. von Ulrich Plenzdorf

In seiner Schulzeit dürfte wohl der eine oder andere über das Werk „Die neuen Leiden des jungen W.“ von Ulrich Plenzdorf gestolpert sein. Ein kurzes, aber durchaus interessantes Buch, das viele Parallelen mit dem bekannten Klassiker von Goethe aufweist – nicht nur was den Titel betrifft.

Der 17-jährige Edgar Wibeau ist Vorzeigeknabe und Musterschüler in einem. Seiner Mutter bereitet er keinerlei Probleme, in der Ausbildung ist er der Beste – und trotzdem flüchtet er eines Tages ohne Vorankündigung gemeinsam mit seinem besten Freund Willi von Mittenberg nach Berlin. Während Willi bald wieder zurückkehrt, bleibt Edgar in Berlin und bewohnt dort die Laube von Willis Eltern. Er glaubt, dass er sich nicht mehr in Mittenberg blicken lassen kann, nachdem er seinem Ausbildner eine Metallplatte auf den Fuss hat fallen lassen.

Edgar, der gerne malt und sich für ein verkanntes Genie auf diesem Gebiet hält, gefällt es in Berlin, obwohl er an der Kunsthochschule nicht aufgenommen wurde. Er lernt die Kindergärtnerin Charlie kennen, die direkt neben seiner Laube unterrichtet. Es dauert nicht lange und Edgar verliebt sich in sie, doch Charlie wird schon bald ihren Verlobten Dieter heiraten.

Die Parallelen zu Goethes Werther

Die Art und Weise, wie Plenzdorf den grossen Klassiker von Goethe in sein eigenes Werk einbaut, ist einerseits gewagt, andererseits aber auch witztig: Edgar sitzt im Dunklen auf der Toilette und findet kein Papier. Das Einzige, das er zur Hand hat, ist ein dünnes Büchlein, von dem er Titel- und Deckblatt, sowie die letzten paar Seiten als Toilettenpapier missbraucht. Dass es sich dabei um Goethes Werther gehandelt hat, kann Edgar danach nicht mehr feststellen. Dennoch liest er das Buch, lässt aber kaum ein gutes Haar am „ollen Werther“. Angefangen bei der Sprache bemängelt er des Weiteren, dass alles in Briefform geschrieben sei und er nicht verstehen könne, wieso die Tatsache, dass Werthers Angebetete bereits verlobt sei, ihn daran gehindert habe, sie zu erobern – und überhaupt: Wer bringt sich wegen einer Frau um?


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Doch neben der Kritik am Werther, die Plenzdorf seinen Protagonisten Edgar Wibeau anbringen lässt, weist das Werk sehr viele Parallelen mit demjenigen von Goethe auf:

  • Edgars bester Freund heisst Willi (Willhelm im Originaltext) und er schickt ihm Tonbänder (statt Briefe), in denen er berichtet, wie es ihm geht. Auf die Tonbänder spricht Edgar Originaltextstellen aus Goethes Werther.
  • Die Dreiecksbeziehung zwischen Edgar, Charlie und Dieter entspricht exakt der Figurenkonstellation von Werther, Lotte und Albert. Lotte respektive Charlie sind verlobt, fühlen sich aber dennoch von Werther respektive Edgar angezogen. Trotzdem sind sie nicht bereit, ihre Verlobten zu verlassen und bleiben bei ihnen, obwohl sie eher spiessig sind.
  • Werther und Edgar haben mit dem Malen dasselbe Hobby. Zudem sind beide intelligent, bekunden jedoch einige Probleme, sich in der Gesellschaft einzuordnen. Sie verlassen daher ihren Heimatort und versuchen ihr Glück woanders.
  • Auch der Aufbau der Geschichte ist sehr ähnlich: Der Protagonist verlässt seine Heimat, versucht sich an einem neuen Ort etwas aufzubauen, lernt eine Frau kennen und lieben, die jedoch bereits einen Verlobten hat. Er sieht seine Angebetete danach eine längere Zeit nicht, in der er sich mit Arbeit abzulenken versucht, trifft sie dann wieder und kommt ihr näher. Zu mehr als einem Kuss reicht es aber nicht. Beide Geschichten enden mit dem Tod des Protagonisten.

Gesellschaftskritik und Sprache

Plenzdorf, der als Schriftsteller in der DDR gewirkt hat, nutzt die Möglichkeit, dass es damals auch Zeiten gab, in denen man sich als Künstler selbst in der DDR die Freiheit nehmen durfte, das System zu kritisieren. Die sozialistischen Grundfesten sind im Werk allgegenwärtig, werden jedoch in der Person von Edgar scharf kritisiert. Der junge Mann findet seinen Platz in der Gesellschaft nicht, weil er anders ist, weil er seine Kreativität ausleben will und mit seiner abweichenden Lebenshaltung aneckt. Gerade Charlie, die mit Dieter einen Verlobten an ihrer Seite hat, der alle Anforderungen an einen guten Sozialisten erfüllt, rät Edgar wiederholt, sich einen Job zu suchen, das Malen zu lassen und in eine richtige Unterkunft zu ziehen.

Doch nicht nur die gesellschaftskritischen Aspekte des Werks sind interessant, sondern auch die formalen. Plenzdorf bedient sich der Montagetechnik und zeigt die Handlung so aus verschiedenen Perspektiven. Edgars Vater spricht mit verschiedenen Personen, die mit seinem Sohn zu tun hatten, bevor er starb. Sie schildern ihre Sichtweise der Dinge, der Vater fragt nach und setzt die Puzzleteile zusammen. Edgar – bereits tot – kommentiert die Gespräche zwischen seinem Vater und den übrigen Personen und fügt seine Sichtweise der Dinge an. Dabei richtet er sich immer wieder direkt an die Leser und verwendet dabei Dialekt und Jugendsprache.

Ein gelungenes Werk – sowohl inhaltlich wie auch formal – das vor allem dann an Qualität gewinnt, wenn man Goethes Werther ebenfalls gelesen hat.

Bibliografische Angaben

Titel: Die neuen Leiden des jungen W.
Autor: Ulrich Plenzdorf
Seiten: 160
Erschienen: 1972
Verlag: Suhrkamp
ISBN-10: 3518368001
ISBN-13: 978-3518368008
Bewertung: 4/5


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