Rezension zu Nullzeit von Juli Zeh

Rezension: Nullzeit von Juli Zeh

Updated Nov 2, 2017

„Nullzeit“ von Juli Zeh ist ein spannender und gleichzeitig auch etwas wirrer Psychothriller, der den Leser zwar packt, am Ende aber trotzdem irgendwie ratlos zurücklässt.

Sven und Antje sind vor vierzehn Jahren aus Deutschland ausgewandert und betreiben auf Lanzarote eine Tauchschule. Trotz zehn Jahren Altersunterschied ergänzen sie sich beruflich und privat gut, auch wenn es privat eher ein Funktionieren als ein von Liebe geprägtes Zusammenleben ist. Ihre ruhige und beschauliche Welt wird aus den Fugen gehoben, als die beiden Gäste Jola von den Pahlen und Theo Hast zu ihnen kommen. Sie ist eine bislang gescheiterte Schauspielerin, die nach wie vor auf den grossen Durchbruch hofft, er ist Schriftsteller, der jedoch seit seinem hochgelobten ersten Roman nichts mehr veröffentlicht hat. Die beiden streiten sich permanent, kommen aber trotzdem nicht voneinander los. Sie sind Meister der Intrigen und so entwickelt sich schon bald eine verhängnisvolle Dreiecksbeziehung zwischen Jola, Theo und Sven, wobei letzterer erst viel zu spät erkennt, dass er nie mehr als ein Spielzeug war.

Komplexe Charaktere als Plus

Schon wieder eine klassische Dreieicksbeziehung: Zwei Männer kämpfen um dieselbe Frau und kriegen sich wegen ihr in die Haare. Nicht sonderlich kreativ – aber nur auf den ersten Blick. Juli Zeh schafft es, diese in der Literatur- und Filmbranche bis zum geht nicht mehr ausgereizten Figurenkonstellation trotz allem interessant darzustellen. Dies gelingt ihr dank den komplexen und vielschichtigen Charakteren. Vor allem Jola und Theo sind äusserst gelungen. Beide machen einen verbitterten Eindruck, weil sie mit ihren Karrieren nicht den gewünschten Erfolg haben. Umso mehr geniessen sie es, das Leiden des anderen auszukosten. Verbale und auch körperliche Streitigkeiten zwischen den beiden sind an der Tagesordnung.

Und dann ist da noch Sven, der Tauchlehrer, der aus Deutschland geflohen ist, weil er mit der Mentalität in seiner Heimat nicht mehr zurecht gekommen ist. Er stand vor einer vielversprechenden Karriere als Jurist, entschied sich jedoch dagegen und lebt seither auf Lanzarote nach dem Credo, sich nicht in die Angelegenheiten anderer Personen einzumischen und sie nicht zu beurteilen.

Etwas zu viel Verwirrung

Juli Zeh setzt die Figuren nicht nur konzeptionell sondern auch sprachlich sehr schön um. Der Leser ist von Beginn weg in der Geschichte drin, der Schreibstil ist flüssig und regt zum Weiterlesen an. Trotzdem haben mich zwei Dinge gestört. Zum einen wird auf dem Einband des Werks von einem fulminanten Psychothriller versprochen. Das ist „Nullzeit“ für mich nicht. Dafür ist das Tempo der Erzählung zu wenig hoch und auch die Dramatik und die Spannung fehlt weitgehend.

Was für viel Verwirrung sorgt, sind die beiden völlig in eine andere Richtung abzielenden Tatsachenberichte von Sven und Jola. Sie berichtet in ihrem Tagebuch völlig anders über dieselben Erlebnisse wie Sven. Natürlich macht es am Ende Sinn und ist ein überraschendes Element, trotzdem bleibt für mich unklar, was denn nun wirklich passiert ist und was nicht. Ist Theo tatsächlich das Ekel, als das er von Jola skizziert wird? Was ist wirklich zwischen Sven und Jola gelaufen?

Nullzeit überschritten

Zum Schluss möchte ich noch eine Interpretation des nicht ganz alltäglichen Titels wagen. Der Begriff Nullzeit kommt aus der Tauchsprache und bedeutet folgendes: Es ist die Zeitspanne, die man mit einem Dekompressionsgerät tauchen kann, ohne dass man vor dem Auftauchen Dekompressionsstopps einlegen muss, um sich wieder an das Einatmen von reinem Sauerstoff zu gewöhnen. Also die Zeit, nach der man wieder auftauchen kann, als wäre nichts geschehen. Genau das ist für mich das Hauptmotiv des Werks. Sven, der es sich vorgenommen hat, sich nirgends einzumischen und niemanden zu beurteilen, wird durch die Person von Jola in seinen Grundfesten erschüttert. Er findet sie anziehend, er googelt sie, er befriedigt sich selbst, während er ihre Telenovela schaut, er hat das Gefühl, sie zu lieben, wie er noch nie jemanden geliebt hat. Es ist ein Strudel, in den er immer tiefer hineingerät, ein Teufelskreis, aus dem er nicht mehr herausfindet. Er kann nicht mehr einfach auftauchen und alles hinter sich lassen. Er hat die „Nullzeit“ überschritten. (Ich würde gerne alternative Interpretationsansätze von euch hören. Wer also einen hat, bitte einfach einen Kommentar hinterlassen).

Auch wenn das Buch für mich die hohen Erwartungen nicht ganz erfüllen konnte, finde ich es allemal lesenswert, vor allem wegen den gelungenen Charakteren und der angenehmen und flotten Schreibweise von Juli Zeh.

Bibliografische Angaben:

Titel: Nullzeit
Autor: Juli Zeh
Seiten: 256
Erschienen: 212
Verlag: Schöffling & co
ISBN-10:  389561436X
ISBN-13:  978-3895614361
Bewertung: 4/5


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